– Anna Michailowna, Ihr Vater… er ist heute Morgen…
Ludmila Iwanownas Stimme bebte. Ich umklammerte das Telefon so fest, dass meine Knöchel weiß wurden.
– Was ist mit ihm? – fragte ich und war selbst überrascht, wie fremd meine Stimme klang.
– Sein Herz hat nicht mehr mitgemacht. Michail Petrowitsch ist im Schlaf gegangen.
Fünfzehn Jahre. Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit ich meinen Vater gesehen, seine Stimme gehört habe. Und jetzt werde ich sie nie wieder hören.
Die Fahrt vom Regionalzentrum in meine Heimatstadt dauerte drei Stunden. Jeder Kilometer schien die Zeit zurückzudrehen – die vertrauten Kurven, die alten Häuser, der Geruch der Herbstluft. Alles war noch genau wie damals, als ich gegangen war.
Das Haus empfing mich mit Schweigen. Auf der Veranda stand eine Frau um die 45 – blond, in einem schwarzen Kleid. Neben ihr ein großer Junge mit den Augen meines Vaters.
– Bist du Anna? – fragte die Frau. – Ich bin Marina. Das ist Oleg, dein Bruder.
Das Wort „Bruder“ klang seltsam. Ich habe einen Bruder, den ich nie gesehen habe.
– Mama hat erzählt, dass ich eine Schwester habe –, sagte Oleg und musterte mich mit kindlicher Neugier. – Stimmt es, dass du mit fünfzehn von zu Hause weggelaufen bist?
– Oleg! – fuhr Marina ihn an. – Komm rein, Anna. Ludmila Iwanowna erwartet dich.
Im Haus roch es nach frischem Gebäck und Trauer. Ludmila Iwanowna saß in der Küche – gealtert, aber immer noch energisch.
– Annuschka, mein Mädchen –, sie umarmte mich. – Wie dünn du geworden bist. Isst du wohl nicht genug?
– Ich esse normal, Ludmila Iwanowna.
– Und wo arbeitest du?
– Als Rezeptionistin in einem Hotel.
Marina zog eine Augenbraue hoch:
– In einem Hotel? Ich dachte, du wärst zum Studieren weggegangen, um Karriere zu machen.
In ihrer Stimme lag kein Vorwurf – nur leichtes Unverständnis. Trotzdem wurde mir unbehaglich.
– Dein Vater hat oft nach dir gefragt –, sagte Ludmila Iwanowna leise. – Er war froh, dass du auf eigenen Beinen stehst. Sogar stolz.
– Stolz? – Ich konnte die Bitterkeit nicht verbergen. – Nachdem er mich rausgeworfen hat?
– Er hat niemanden rausgeworfen –, erwiderte Ludmila Iwanowna scharf. – Du bist selbst gegangen, nach diesem Streit.
Marina wechselte einen Blick mit Oleg und stand auf:
– Wir gehen zu den Nachbarn, dort gibt es noch viel zu tun. Ihr könnt inzwischen reden.
Als sie gegangen waren, schenkte mir Ludmila Iwanowna Tee ein und setzte sich mir gegenüber.
– Erzähl mir von Denis –, bat ich. – Was ist wirklich passiert?
Die alte Frau seufzte:
– Dein Vater hatte gute Gründe, eure Beziehung nicht zu billigen. Denis Krawzow hat Ersatzteile aus der Werkstatt gestohlen und weiterverkauft. Zuerst verdächtigte Michail Petrowitsch die Arbeiter, dann fand er heraus, dass er es war.
– Warum hat er es mir nicht gesagt?
– Er hatte Angst, du würdest ihm nicht glauben. Mit fünfzehn hält ein verliebtes Mädchen den Vater für einen Tyrannen, der einem alles verbietet.
Ich schwieg und verarbeitete das Gehörte.
– Und was ist mit Denis passiert?
– Ein halbes Jahr nach deinem Weggang wurde er erwischt. Saß ein Jahr im Gefängnis. Danach ist er in eine andere Stadt gezogen. Hier hat ihn niemand mehr gesehen.
Am nächsten Tag war die Beerdigung. Viele Leute kamen – mein Vater war angesehen. Nach dem Friedhof gingen alle, nur die engste Familie blieb.
– Morgen kommt der Notar –, sagte Marina und räumte den Tisch ab. – Igor Wassiljewitsch will das Testament verlesen.
– Warum nicht gleich?
– Vater wollte warten, bis du zurück bist.
Ich war überrascht. Also wusste er, dass ich kommen würde? Oder hatte er nur gehofft?
Abends saßen wir zu dritt in der Küche. Oleg machte Hausaufgaben, Marina bügelte Wäsche. Ein normales Familienleben, in dem ich mich fehl am Platz fühlte.
– Erzähl mir von Vater –, bat ich. – Wie war er in den letzten Jahren?
Marina dachte nach:
– Ein guter Ehemann, ein fürsorglicher Vater. Ehrlich, fleißig. Nur traurig. Besonders an deinem Geburtstag und zu Neujahr. Er sagte dann: „Ich frage mich, wie meine Anna feiert.“
– Mama, warum hat Papa mir nie von Anna erzählt? – fragte Oleg und sah vom Lehrbuch auf.
– Das hat er. Aber du warst noch klein.
– Warum ist sie nie zu Besuch gekommen?
Marina sah mich an:
– Das musst du Anna fragen.
– Stolz –, antwortete ich ehrlich. – Dummer, kindischer Stolz.
Am nächsten Morgen kam der Notar – Igor Wassiljewitsch, ein hagerer Mann über sechzig in strengem Anzug und Brille. Hinter ihm betrat Wiktor Semjonow das Haus, der Geschäftspartner meines Vaters, an den ich mich seit meiner Kindheit erinnerte.
– Anna! – Er lächelte breit. – Wie schön du geworden bist! Ganz wie deine Mutter in jungen Jahren!
Ich schüttelte seine ausgestreckte Hand, konnte aber nicht lächeln. Etwas in seinem Tonfall beunruhigte mich.
Der Notar breitete Dokumente auf dem Tisch aus:
– Kommen wir zur Verlesung des Testaments von Michail Petrowitsch Petrow.
Er begann mit offizieller, emotionsloser Stimme zu lesen. Das Haus und die Werkstatt gingen an die Familie. Doch dann folgte das Unerwartete:
– Das Geldvermögen in Höhe von acht Millionen Rubel, das auf dem Depotkonto bei der Bank „Raswitije“ liegt, wird der Tochter Anna Michailowna Petrowa vermacht.
Stille breitete sich aus. Marina erbleichte. Wiktor runzelte die Stirn. Oleg verstand nichts.
– Acht Millionen? – fragte ich nach. – Woher hatte Vater so viel Geld?
– Michail Petrowitsch hat fünfzehn Jahre lang Einnahmen aus der Werkstatt und anderen Geschäften zurückgelegt –, erklärte der Notar. – Das Konto wurde bereits zu deiner Geburt auf deinen Namen eröffnet.
– Das ist unfair! – Wiktor sprang auf. – Das Geld gehört der Familie! Er hat eine Frau und einen Sohn!
– Das Testament ist rechtmäßig –, antwortete Igor Wassiljewitsch ruhig.
Marina schwieg, aber ihr Gesicht zeigte Schock und Schmerz.
– Marina Stepanowna –, wandte sich der Notar an sie –, Ihr Mann hat Ihnen einen Brief hinterlassen.
Mit zitternden Händen öffnete sie den Umschlag. Während sie las, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck.
– Was steht da? – fragte ich ungeduldig.
– Er schreibt, dass das Geld immer für dich bestimmt war. Er hat gehofft, du würdest zurückkommen, und wollte, dass du die Chance auf einen Neuanfang hast. Uns hat er das Haus, die Werkstatt und ein weiteres Konto mit eineinhalb Millionen hinterlassen.
Wiktor wurde rot:
– Und was ist mit unserer Partnerschaft? Die Hälfte der Werkstatt gehört mir! Und ein Teil des Geldes auch!
– Haben Sie Dokumente, die das bestätigen? – fragte der Notar.
– Natürlich! Michail und ich haben fünfzehn Jahre zusammengearbeitet!
Nachdem Igor Wassiljewitsch gegangen war, brach ein Streit aus. Wiktor verlangte seinen Anteil, Marina versuchte zu beruhigen, Oleg verkroch sich schweigend in eine Ecke.
– Anna, du verstehst doch, dass du nicht einfach alles einstecken kannst? – sagte Wiktor. – Du hast eine Familie, Verantwortung.
– Welche Familie? – Ich war empört. – Vor fünfzehn Jahren hatte ich keine Familie, als ich dieses Haus verlassen habe!
– Nicht so laut –, mischte Marina sich ein. – Oleg hört zu.
Tatsächlich saß der Junge verängstigt da. Mir war peinlich.
– Entschuldige –, sagte ich zu ihm. – Erwachsene streiten manchmal. Aber das ist nicht schlimm.
Oleg nickte, aber seine Augen blieben besorgt.
Abends, als Wiktor gegangen war, blieben wir zu dritt. Marina brachte Oleg ins Bett, ich wanderte durchs Haus und betrachtete vertraute Dinge.
Auf Vaters Schreibtisch lag eine Mappe mit der Aufschrift „Anna“. Die Neugier siegte.
Darin lagen Dutzende Briefe in seiner Handschrift. Alle an mich adressiert. Keiner war je abgeschickt worden.
„Meine liebe Annuschka, heute bist du sechzehn geworden. Ludmila Iwanowna sagt, du hast dich gut eingerichtet. Ich bin so stolz auf dich…“
„Anechka, zwei Jahre sind vergangen. Jeden Tag frage ich mich: Hätte ich dir von Denis erzählen sollen, statt es einfach zu verbieten?“
„Meine Tochter, ich habe ein Konto für dich eröffnet. Jeden Monat lege ich Geld beiseite. Wenn du zurückkommst, kannst du damit tun, was du willst…“
Die Briefe erzählten die Geschichte eines Vaters, der nicht um Verzeihung bitten konnte, aber grenzenlos liebte. Er verfolgte mein Leben über Dritte, freute sich über meine Erfolge, litt unter meinen Misserfolgen.
Ein Brief traf mich besonders:
„Wiktor Semjonow drängt darauf, dein Geld in die Werkstatt zu investieren. Verspricht hohe Gewinne. Aber das Geld ist nicht für Geschäfte. Es ist für dich. Damit du einem alten Narren verzeihst und neu anfängst.“
Ich weinte, als ich diese Zeilen las. So viele verlorene Jahre… So viele ungesagte Worte…
– Anna, wo bist du? – Marinas Stimme riss mich aus den Gedanken.
Ich wischte die Tränen ab und ging in die Küche. Marina saß mit einer Tasse Tee am Tisch.
– Kannst du nicht schlafen? – fragte sie.
– Ich habe Papas Briefe gefunden.
Sie nickte:
– Er hat jeden Monat einen geschrieben. Ich wollte sie abschicken, aber er sagte: „Nicht jetzt. Anna ist noch nicht bereit, mir zu verzeihen.“
– Und wie hast du dich gefühlt, als du vom Testament erfahren hast? Dass er mir alles hinterlassen hat?
Sie überlegte:
– Zuerst war ich verärgert. Dachte an Olegs Zukunft, sein Studium, dass wir das Geld auch brauchen würden. Aber dann verstand ich: Dein Vater war gerecht. Oleg bekommt Haus und Werkstatt. Dir gab er die Chance auf einen Neuanfang. Du bist damals mit nichts gegangen.
– Aber acht Millionen…
– Dein Vater hat fünfzehn Jahre lang auf vieles verzichtet – kein neues Auto, keine Urlaube, keine Renovierung. All die Jahre dachte er nur an dich.
Am nächsten Tag kam Wiktor mit einer Dokumentenmappe. Entschlossen im Gesicht.
– Sieh her, Anna –, er breitete Papiere aus. – Hier ist der Partnerschaftsvertrag. Wir haben zu gleichen Teilen investiert, also steht mir die Hälfte zu.
Ich prüfte die Dokumente. Formal hatte Wiktor tatsächlich Anspruch auf einen Teil.
– Gut –, sagte ich. – Aber nicht die vollen acht Millionen. Laut diesen Papieren stehen dir etwa zwei zu.
Wiktor war empört:
– Zwei? Das ist nicht dein Ernst! Ich hatte mit mindestens vier gerechnet!
– Gesetzlich sind es zwei. Wenn du nicht einverstanden bist, geh vor Gericht.
Er merkte, dass Erpressung nicht funktionierte, gab aber nicht auf:
– Okay, zwei. Aber ich möchte Marinas Anteil an der Werkstatt kaufen. Das Geschäft muss weiter wachsen.
– Die Werkstatt ist nicht verkäuflich –, sagte Marina entschieden. – Sie ist Olegs Erbe.
– Dann gehe ich. Nehme die Ausrüstung mit. Mal sehen, wie ihr ohne mich klarkommt.
Nach seinem Abgang beriet ich mich mit Marina. Ohne Wiktor würde die Werkstatt wohl scheitern – er kannte die Kunden, Lieferanten, alle Abläufe.
– Was tun? – fragte sie.
Die Lösung kam nachts. Am Morgen hatte ich einen Plan.
– Hol Oleg und Wiktor –, sagte ich beim Frühstück. – Ich habe einen Vorschlag.
Eine Stunde später saßen alle am Tisch. Wiktor murrte, Oleg wirkte verwirrt, Marina war nervös.
– Hört zu –, begann ich. – Wiktor, du bekommst deine zwei Millionen. Aber nur das Geld – die Ausrüstung bleibt. Und du bleibst in der Werkstatt.
– Zu welchen Bedingungen?
– Ich kaufe deinen Anteil für eine Million. Marina wird Geschäftsführerin, du leitender Meister. Gutes Gehalt plus Gewinnbeteiligung.
Wiktor überlegte:
– Und was machst du mit dem Rest?
– Eine Million für Olegs Ausbildung. Eine Million für Marina. Vier behalte ich.
Stille.
– Und du? – fragte Marina.
– Ich bleibe hier. Helfe euch in der Werkstatt. Mein Job in der Hotellerie hat mir Verwaltungserfahrung gebracht – Buchhaltung, Werbung, neue Kunden.
– Du willst in unsere Kleinstadt zurück? – Wiktor war baff.
– Ich möchte es versuchen. Hier ist meine Familie. Hier ist Vaters Werkstatt. Vielleicht ist es Zeit, nicht mehr vor der Vergangenheit davonzulaufen.
Oleg meldete sich plötzlich:
– Wirst du jetzt meine richtige Schwester sein? Gehst du nicht wieder weg?
Ich sah den Jungen mit den Augen meines Vaters an und wusste: Die Entscheidung war richtig.
– Ich bleibe, Oleg. Werde eine richtige Schwester sein.
Ein Monat später war alles geregelt. Wiktor akzeptierte die Bedingungen. Marina und ich modernisierten die Werkstatt – Computerbuchhaltung, Onlinewerbung, Firmenkunden. Die Einnahmen stiegen um ein Drittel.
Oleg half nach der Schule.
– Ich werde Mechaniker wie Opa –, verkündete er eines Tages.
– Erst mal gut lernen –, erwiderte ich.
Abends fragte Marina:
– Bereust du die Rückkehr?
– Nein. Fünfzehn Jahre dachte ich, Vater hätte mich nicht geliebt. Dabei hat er mir alles gegeben.
– Er wollte so sehr, dass du ihm vergibst.
– Ich habe ihm verziehen. Mir selbst zu vergeben, ist schwerer.
Ludmila Iwanowna brachte oft Kuchen und Neuigkeiten.
– Dein Vater wäre glücklich, euch alle zusammen zu sehen. Davon hat er geträumt.
Das Geld hat unser Leben verändert – aber nicht, wie man denkt. Es hat uns nicht reich gemacht im üblichen Sinn. Es hat uns zur Familie werden lassen.
Oleg geht jetzt auf eine gute Schule. Marina macht eine Buchhalterausbildung. Wiktor heiratete und baute ein Haus.
Manchmal frage ich mich: Was wäre ohne Ludmila Iwanownas Anruf? Würde ich noch als Hotelangestellte leben, von Gehalt zu Gehalt?
Jetzt habe ich ein Geschäft, das Sinn gibt. Eine Familie. Eine Zukunft.
Vaters Briefe bewahre ich auf. Sie sind voller Liebe und Weisheit – genug für ein ganzes Leben.
Geld kann ausgehen. Aber Familie, Gemeinschaft, Zugehörigkeit – das ist wahrer Reichtum.
Ludmila Iwanowna hat recht: Vater wäre jetzt glücklich. Wir sind die Familie, die er sich erträumt hat. Es brauchte nur fünfzehn Jahre und acht Millionen, um das zu begreifen.