Das Punktesystem schien anfangs harmlos genug. Ich dachte, es sei nur Herr Reinhardts Art, festzuhalten, wer ihn besuchte. Keiner von uns ahnte, dass er akribisch jede Minute, jeden Anruf und jede gute Tat dokumentierte. Erst als der Anwalt den Umschlag öffnete, wurde mir klar, dass sich mein Leben für immer verändern würde.
Als ich mich für meinen Zivildienst in einem bekannten Seniorenheim anmeldete, suchte ich nach einer einfachen Möglichkeit, meine Pflichtstunden abzuleisten. Stattdessen erhielt ich einen Schnellkurs in Menschlichkeit, der letztlich den Verlauf meines Lebens verändern sollte.
„Herr Tim! Schon wieder zu spät!“, rief Frau Peterson von ihrem gewohnten Platz am Fenster. Ich grinste und entschuldigte mich, insgeheim liebte ich es, wie sie mich zur Rechenschaft zogen.
In den 18 Monaten lernte ich, zerbrechliche Körper vom Rollstuhl ins Bett zu heben, Medikamente zu verabreichen, ohne jemanden hilflos fühlen zu lassen, und vor allem, Geschichten zuzuhören, die jahrzehntelang darauf gewartet hatten, erzählt zu werden.
Als mein Dienst endete, trieb ich umher. Bewerbungen lagen halb fertig auf meinem Laptop, während ich davon träumte, mit dem Rucksack durch Europa zu reisen oder in Südamerika zu helfen. Alles, nur um nicht entscheiden zu müssen, was ich eigentlich im Leben wollte.
Dann vibrierte mein Handy an einem Mittwochnachmittag.
„Hey, bist du heute Abend auf ein Bier frei?“, lautete Leos Nachricht. Wir waren seit der Highschool befreundet, hatten uns nach dem College aber seltener gesehen.
„Klar. Bei Harry um acht?“, antwortete ich.
Als ich ankam, nippte Leo bereits an einem Bier. Ich bemerkte, dass seine sonst so lässige Art von etwas Schwerem verdrängt worden war.
„Erinnerst du dich an meinen Großvater?“, fragte er, nachdem wir das Übliche ausgetauscht hatten.
„Oh, Herr Reinhardt? Wie könnte ich ihn vergessen! Der Mann, der uns Poker beibrachte und uns dann unser Taschengeld verprasst hat?“, lachte ich und wurde warm bei der Erinnerung an jene Sommernachmittage an seinem Küchentisch.
„Ja“, lächelte Leo. „Ich brauche Hilfe bei meinem Großvater.“
Er erzählte, dass Herr Reinhardt sich letzten Monat böse das Bein gebrochen hatte. Nichts war wirklich gebrochen, aber der Sturz hatte sein Selbstvertrauen erschüttert. Der einst so vitale Mann, der sein Geschäft aus dem Nichts aufgebaut und nach dem frühen Tod seiner Frau drei Söhne allein großgezogen hatte, tat sich nun mit Knöpfen und Schnürsenkeln schwer.
„Vater und Onkel Stefan wollen ihn ins Heim stecken“, offenbarte Leo. „Aber Opa wehrt sich mit Händen und Füßen. Er sagt, er wolle lieber in seinem Haus sterben, als von Fremden umgeben zu sein.“
Ich nickte und erinnerte mich daran, wie die Bewohner im Seniorenheim aus den Fenstern starrten und Tage zählten.
„Ich habe gehört, du hast in diesem Heim gearbeitet“, fuhr Leo fort. „Könntest du mir… ich weiß nicht, ein paar Grundlagen beibringen? Wie man ihm sicher beim Duschen hilft und so weiter? Nur für ein paar Wochen, bis ich drin bin. Ich zahle dich natürlich.“
„Mach dich nicht lächerlich“, sagte ich und winkte sein Angebot ab. „Herr Reinhardt hat mich immer wie Familie behandelt. Hat mich seinen fünften Enkel genannt, erinnerst du dich? Ich helfe gerne.“
Die Erleichterung auf Leos Gesicht war sofort sichtbar. „Wirklich? Das wäre großartig, Tim.“
„Natürlich“, antwortete ich und begann schon im Kopf, die benötigten Utensilien zu notieren. „Er ist ein stolzer Mann. Wir müssen ihm helfen, ohne dass er sich hilflos fühlt.“
Am folgenden Montag fuhr ich nervös die Einfahrt von Herrn Reinhardts Ranchhaus entlang. Das Haus war unverändert, doch der Mann darin wirkte verändert.
Leo empfing mich an der Tür. „Danke, dass du gekommen bist. Heute ist er schlechter gelaunt.“
„Erwartet er mich?“ fragte ich und fragte mich plötzlich, ob ich eingriff.
„Ja, aber du kennst ihn – er akzeptiert ungern Hilfe.“
Wir fanden Herrn Reinhardt in seinem Arbeitszimmer sitzend.
Der Anblick traf mich hart. Er war dünner und blasser als in meiner Erinnerung, doch die stahlblauen Augen waren immer noch so scharf wie eh und je.
„Na, wenn das nicht Tim ist“, sagte er. „Leo sagt, du willst ihm beibringen, wie man mich babysittet.“
Ich lächelte und erkannte den Stolz hinter dem Spott. „Eigentlich, Sir, hoffe ich, dass Sie mir ein paar Dinge beibringen. Ich habe von Ihrem Marineservice gehört, aber Leo sagt, Sie hätten nie von Ihrer Zeit in der Marine erzählt.“
In seinen Augen glomm plötzlich etwas auf. „Der Junge weiß nicht mal die Hälfte von dem, was ich erlebt habe. Setz dich, wenn du bleibst.“
Und so war das Eis gebrochen. In der ersten Stunde redeten wir über seinen Marineservice, während ich Leo beiläufig zeigte, wie man Herrn Reinhardt beim Aufstehen stützte, ohne dass es auffiel – eine Hand, die eher wie eine freundliche Geste wirkte.
„Ich sehe, was du da machst“, sagte Herr Reinhardt plötzlich mit wissendem Blick. „Und ich schätze die Würde dahinter.“
In den folgenden Wochen entwickelten sich unsere Besuche zu einer vertrauten Routine. Leo kam morgens zum Frühstück, ich nachmittags, und zusammen halfen wir bei Physiotherapieübungen, der Medikamentengabe oder saßen einfach auf der Veranda und schauten, wie die Vögel den Futterspender besuchten, den Herr Reinhardt vor Jahrzehnten gebaut hatte.
„Ihr markiert wirklich eure Besuche in meinem Kalender?“, fragte er eines Tages und deutete auf den großen Kalender in der Küche.
Leo blickte verwirrt. „Sollen wir das?“
Herr Reinhardt lächelte geheimnisvoll. „Ich behalte den Überblick. Hab mein eigenes System.“
Damals dachte ich nicht weiter darüber nach. Ich nahm an, es sei nur die Art eines alten Mannes, Kontrolle zu behalten.
Doch aus den wenigen versprochenen Wochen wurden Monate. Genau sechs.
Zuerst ging Herr Reinhardts Gesundheit langsam bergab, dann plötzlich.
An einem Abend war er noch bestens bei Stimme und erzählte, wie er einst einen konkurrierenden Ladenbesitzer ausgetrickst hatte. Am nächsten Morgen rief Leo weinend an.
Sein Großvater hatte einen schweren Schlaganfall erlitten.
Drei Tage später verstarb Herr Reinhardt leise im Krankenhaus.
Der Tag danach war von jener bleiernen Traurigkeit erfüllt, die eintritt, wenn man jemanden verliert, der so viele Geschichten in sich trug. Leo und ich saßen in der Küche seines Großvaters, tranken Kaffee, den keiner von uns wirklich wollte, und trafen Vorkehrungen, für die wir nicht bereit waren.
Plötzlich klingelte das Telefon und riss uns aus dem Schweigen.
Leo ging ran. Ich sah, wie sich sein Gesicht von Trauer in Verwirrung verwandelte.
„Ja, er ist hier bei mir“, sagte Leo und sah zu mir. „Morgen um zehn? Wir sind da.“
Er legte auf und wandte sich mir zu.
„Das war Omas Anwalt. Die Testamentseröffnung ist morgen vor der Beerdigung. Und du sollst ausdrücklich dabei sein.“
„Ich?“ fragte ich ungläubig. „Warum ausgerechnet ich?“
Leo zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber Opa hat es so bestimmt.“
In jener Nacht schlief ich kaum. Warum würde Herr Reinhardt mich in so private Familienangelegenheiten einbeziehen? Ich hatte nichts Besonderes getan. Ich hatte nur das getan, was jeder anständige Mensch tun würde.
***
Das Büro des Anwalts roch nach Leder und Zitronenpolitur. Leo und ich trafen pünktlich um zehn ein, doch Leos Vater Victor und Onkel Stefan saßen bereits.
Ihre Blicke verengten sich, als sie mich erblickten.
„Was zum Teufel macht er hier?“, fauchte Victor. „Ich weiß, Dad hat dich seinen ›fünften Enkel‹ genannt, aber das hier ist Familiensache.“
Stefan lehnte sich vor und verengte die Augen. „Wette, das Goldgräber-Mädchen hofft auf eine fette Auszahlung.“
Mein Gesicht glühte, doch ich blieb ruhig. „Der Anwalt hat mich eingeladen. Ich weiß nicht warum. Ich bin nur hier, um zuzuhören.“
Victor sprang auf und zeigte mit dem Finger auf mich. „Wenn du Opa manipuliert hast, verklage ich dich so, dass deine Enkel noch von den Anwaltskosten zahlen!“
Leo stellte sich schützend vor mich. „Zeig Respekt. Du hast dich nicht gekümmert, als er noch lebte. Lass ihm wenigstens Ruhe nach dem Tod.“
„Halt deinen Mund, Junge“, knurrte Stefan.
Leo wich nicht zurück. „Von dir kriegt er genauso viel Respekt wie du ihm gegeben hast: keinen.“
Die Spannung wäre weiter eskaliert, hätte sich nicht in diesem Moment die Tür geöffnet. Leos Cousins traten ein, Designerklamotten und selbstgefällige Grinsen verkündeten ihre Erwartungen.
Während wir auf den Anwalt warteten, konnte ich ihr Gespräch belauschen.
„Ich hab schon eine Anzahlung für den Porsche geleistet“, prahlte ein Cousin. „Dachte, Opa würde wollen, dass ich sein Geld in Style genieße.“
„Ich hab das Auge auf die Villa in Cabo geworfen“, entgegnete der andere. „Drei Wochen Sonne und Tequila.“
Kein Wort über den Mann, dessen Tod diesen Traum finanzierte. Kein Moment echter Trauer. Nur „ich, ich, ich“ und „Geld, Geld, Geld.“
Als der Anwalt endlich eintrat, wurde es still. Er öffnete seinen Aktenkoffer und zog einen versiegelten Umschlag hervor.
„Herr Reinhardt war sehr klar in seinen Anweisungen“, begann er. „Bevor ich das formelle Testament verlese, soll ich diesen Brief vorlesen.“
Er brach das Siegel und entfaltet mehrere handgeschriebene Seiten.
„An meine Familie und an Tim, der durch Wahl und nicht durch Blut zur Familie wurde“, las er vor. „Wenn ihr das hört, bin ich endgültig am Ende. Seid nicht traurig. Ich hatte ein gutes Leben.“
„Im Laufe der Jahre habe ich erkannt, wer wirklich für mich da war, und ich wollte gerecht aufteilen“, fuhr er fort. „Also habe ich ein Punktesystem entwickelt:
– Anruf oder Brief: 1 Punkt (jeweils +1 für längere)
– Besuch: 2 Punkte pro Stunde (+1 Punkt Reisezeit pro Stunde)
– Hilfeleistung: 3 Punkte pro Stunde“
„Hier die Endstände der letzten drei Jahre:
Victor: 8 Punkte
Stefan: 10 Punkte
Stefans Kinder: 150 und 133 Punkte
Leos Bruder: 288 Punkte
Leo: 7 341 Punkte
Und an meinen fünften Enkel… 5 883 Punkte.“
Der Anwalt sah auf und las weiter.
„Ich habe mein Vermögen liquidiert (außer dem Haus, das verkauft wird). Der Gesamtbetrag wird durch die Punktesumme geteilt und entsprechend verteilt.“
Der Raum war wie versteinert, während die Bedeutung langsam einsickerte.
Dann brach das Chaos los.
„Das ist lächerlich!“, schrie Victor. „Er wurde offensichtlich manipuliert!“
Stefan schlug auf den Tisch. „Wir sind seine Söhne! Sein echtes Blut! Das muss illegal sein!“
Der Anwalt hob die Hand und brachte mit geübter Autorität Stille in den Raum. „Herr Reinhardt hat eure Reaktion vorausgesehen. Wer das Testament anfechtet, verliert automatisch seinen Anteil. Dann wird unter den übrigen Begünstigten aufgeteilt.“
Victor und Stefan tauschten Blicke.
„Wie viel ist es?“, fragte Stefan. „Was ist das Gesamtvermögen wert?“
Der Anwalt nannte eine Summe, bei der mir schwindelig wurde. Selbst anteilig war es mehr Geld, als ich mir je erträumt hatte.
Sie klagten trotzdem. Behaupteten, ich hätte einen alten Mann ausgenutzt und dass Leo und ich geheime Absprachen getroffen hätten, um sein Erbe zu stehlen.
Drei lange Jahre wurden zu einer Abfolge von Vorladungen und Gerichtsterminen.
Am Ende verloren sie. Jede Berufung, jeder Antrag, jeder verzweifelte Versuch, Herrn Reinhardts Willen rückgängig zu machen, scheiterte.
Die Punkte blieben bestehen.
Als das Geld schließlich ankam, überlegte ich, Victor und Stefan etwas zurückzugeben. Nicht, weil sie es verdient hätten, sondern weil ich nicht für das Geld geholfen hatte. Es fühlte sich seltsam an, für bloße Anständigkeit belohnt zu werden.
Doch Leo hielt mich mit Worten auf, die ich nie vergessen werde.
„Du warst für ihn da, als er dich brauchte. Du hast es aus Liebe getan. Das hat dich mehr zur Familie gemacht als sie es jemals waren. Er hat es gesehen. Und er hat es gerecht gemacht.“
Ich habe oft über Herrn Reinhardts Punktesystem nachgedacht. Es ging nicht wirklich ums Geld. Es ging darum, zu erkennen, was am Ende zählt: Wer auftaucht, wer anruft, wer da sitzt, wenn die Welt still wird.
Das größte Vermögen misst sich nicht in Dollar, Immobilien oder Besitz. Es wird in Minuten berechnet, in gehaltenen Händen, in geteilten Geschichten.
Am Ende schreiben wir alle auf unsere eigene Weise Punkte. Und manchmal, wenn wir Glück haben, schaffen wir es, die Bilanz auszugleichen, bevor wir gehen.