Frosja lag da und bewegte sich nicht einmal. Doch als er wegging, stand sie auf und begann, die kleinen Strohhalme aus ihrem Kopftuch zu zupfen. Auf dem Heimweg schwankte sie wie betrunken von einer Seite zur anderen.
Mutter, Vater und die ältere Schwester waren über Nacht auf dem Feld geblieben, um früh mit der Arbeit zu beginnen. Frosja war zu Hause geblieben, um sich um den Haushalt und das Vieh zu kümmern. Niemand hätte gedacht, dass sie nachts Besuch von einem jungen Mann bekommen würde.
Er hatte sie am Bach bemerkt. Obwohl Frosja ihn nicht kannte, kam ihr sein Gesicht seltsam vertraut vor. Er war freundlich, sodass sie keine Angst vor ihm hatte. Doch seine Augen verrieten, dass er nichts Gutes im Schilde führte.
„Soll ich dir helfen, das Heu zu tragen?“ fragte er.
„Es ist leicht“, entgegnete Frosja, schob seine Hand weg und beschleunigte ihren Schritt.
„Warum bist du so störrisch?“
Seinen Namen erfuhr sie nie. Es war, als hätte er absichtlich nichts über sich erzählt, sondern nur belanglose Gespräche geführt, um sie zu verwirren. Frosja spürte, dass etwas nicht stimmte, und fragte:
„Warum hängst du eigentlich an mir? Geh doch, wohin du wolltest!“
„Ich gehe erst, wenn ich bekomme, was ich will.“
„Wie meinst du das?“
Plötzlich sprang er auf sie und warf sie ins Heu. Egal, wie laut sie schrie oder weinte, er hörte nicht auf. Und es hatte keinen Sinn zu schreien – im Wald hätte sie sowieso niemand gehört.
Frosja erzählte niemandem, was passiert war. Ihr Vater hätte sie eigenhändig umgebracht. Man musste sich nur die Mutter ansehen – sie war ständig ohne Grund mit blauen Flecken und Kratzern übersät. Frosja weinte sich heimlich aus und kehrte dann zu ihren Pflichten zurück, um ihre Eltern nicht zu verärgern.
„Frosja, wo warst du so lange, du dumme Gans? Die Schweine schreien schon vor Hunger!“ petzte ihre kleine Schwester.
„Dann hättest du sie füttern sollen. Geh mir aus dem Weg!“
Frosja wusch das Kind und rannte weiter über den Hof, während ihr immer wieder die Tränen kamen.
Im Herbst heiratete Frosjas ältere Schwester. Sie war überglücklich – der Bräutigam war zwar arm, aber sie war endlich dem tyrannischen Vater entkommen. Doch Frosja bemerkte Veränderungen an sich selbst. Sie konnte nichts essen und ihr war morgens schlecht. Als sie merkte, dass ihr Bauch wuchs, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Wie sollte sie das ihren Eltern erklären?
Sie wusste nicht, wie sie sich aus dieser Situation befreien sollte. Es würde früher oder später ohnehin auffallen, denn ihr Bauch wurde immer größer. Für das ungeborene Kind empfand sie nichts. Wie sollte sie auch Muttergefühle haben – sie war doch erst 16! Sie wünschte sich, dass das Baby einfach in ihr aufhörte zu leben.
Mit der Zeit fiel es ihrer Mutter auf, dass Frosja nicht mehr so viel im Haushalt arbeitete.
„Bist du krank, Frosja?“
„Nein, Mama, alles ist in Ordnung.“
Dann mischte sich auch der Vater ein:
„Du bist ja ganz schön rund geworden diesen Winter… Wir haben dich gut gemästet! Dein zukünftiger Mann wird sich freuen!“
Frosja zog ihren Bauch ein, damit ihr Vater nichts bemerkte. Er lobte ihre Schönheit, doch sie sah nichts Schönes an sich. Dunja war süß und hübsch, aber sie? Und dann noch diese Kartoffelnase!
Sie versuchte, ihren Bauch mit Tüchern zu verstecken. Sie wartete nur darauf, dass das Kind geboren wurde, damit sie es loswerden konnte. Dann würde ihr Leben endlich normal werden.
Als der siebte Monat begann, fühlte sich Frosja zunehmend schlechter. Sie stöhnte leise, damit niemand sie hörte. Die Wehen setzten in der Nacht ein. Heimlich verließ sie das Haus und ging zum Schuppen. Dort legte sie sich ins Heu und brachte ihr Kind zur Welt.
Am Morgen war Frosja Mutter eines kleinen Mädchens. Das Baby rührte sich nicht. Zunächst erschrak sie – doch eigentlich war das ja genau das, was sie wollte. Doch plötzlich regte sich etwas in ihr – vielleicht ein mütterlicher Instinkt. Sie klopfte das Baby vorsichtig ab – und es begann zu atmen. Sofort liefen ihr Tränen über die Wangen.
Sie schnitt die Nabelschnur mit einem Stück Stoff durch. Dann betrachtete sie das Kind genauer und bemerkte ein Muttermal auf seiner Schulter.
Kurz vor Sonnenaufgang trat sie mit dem Baby in den Wald hinaus.
Es war Winter, und Frosja war durchnässt, doch die Kälte spürte sie nicht. Ihre Seele schmerzte so sehr, dass sie am liebsten laut geweint hätte. Sie hatte keine Wahl. Sie musste das Kind zurücklassen, denn sie fürchtete den Zorn ihres Vaters.
Sie legte das Baby unter einen Baum. Es schlief – völlig geschwächt. Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden, aber sie musste nach Hause zurück. Während sie durch das Dorf schlich, zerriss es ihr das Herz. Wie sollte dieses hilflose Wesen im Wald überleben?
Der Gedanke ließ sie aufschluchzen. Plötzlich drehte sie sich um und rannte zurück. Sollten sie lieber beide sterben!
Doch als sie am Baum ankam, war das Baby verschwunden. Nur Spuren im Schnee führten in die Tiefe des Waldes. Zum Glück war es kein Wolf oder Bär…
Frosja schrie aus Leibeskräften:
„GEBT MIR MEIN KIND ZURÜCK!“
Doch sie musste mit leeren Händen nach Hause gehen.
Sieben Jahre vergingen. Zwei Jahre nach jenem Tag wurde Frosja verheiratet. Ihr Mann war genauso wie ihr Vater. In der Hochzeitsnacht schlug er sie, als er merkte, dass sie keine Jungfrau mehr war. Sie gestand ihm, dass sie vergewaltigt worden war – aber das machte ihn nur noch wütender.
Er schlug sie regelmäßig – noch schlimmer als ihr Vater. Zwei Schwangerschaften endeten in Fehlgeburten. Und sie wollte nie wieder ein Kind bekommen.
Frosja beklagte sich nicht über ihr Schicksal. Sie wusste, dass sie für ihre Tat bestraft wurde. Oft dachte sie an ihre Tochter – an das Muttermal auf ihrer Schulter.
Nach einem besonders heftigen Übergriff beschloss Frosja, ihren Mann zu verlassen. Sie ging in den Wald, wo sie einst ihr Kind ausgesetzt hatte. Dort gab es einen tiefen Fluss – in ihm würde sie sich ertränken.
Doch als sie in das Wasser steigen wollte, rief jemand:
„Halt! Hier darf man nicht baden! Es ist zu tief!“
Sie wachte am Ufer auf. Ein Mann hatte sie gerettet.
„Also, eine Selbstmörderin, was?“ fragte er.
„Wer hat dich gebeten, mich zu retten?“
Neben ihm stand ein kleines Mädchen und zog Algen aus Frosjas Haaren. Es war wunderschön, mit blauen Augen – etwa sieben oder acht Jahre alt.
„Warum solltest du nicht gerettet werden?“ fragte der Mann.
„Weil ich niemanden habe. Kein Zuhause, keine Familie.“
Der Mann runzelte die Stirn, zog den Kragen des Mädchens herunter – und da war es: das Muttermal.
„Ich habe sie damals im Wald gefunden…“
Er hatte ihre Tochter gerettet.
Frosja fiel ihrer Tochter weinend um den Hals.